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Vergewaltigungen auf Ameland Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Acht mutmaßliche Täter, acht mögliche Opfer, alle unter 16 Jahre alt - die Klärung der Vergewaltigungsvorwürfe in einem Ferienlager auf Ameland ist kompliziert. Doch jetzt zeigt sich: Die Übergriffe waren möglich, weil Verantwortliche offenbar kollektiv versagten.
Haus "Silbermöwe": Der Missbrauch soll sich im Schlafsaal unter dem Dach ereignet haben

Haus "Silbermöwe": Der Missbrauch soll sich im Schlafsaal unter dem Dach ereignet haben

Foto: DDP

Hamburg - Sie nannten sich "Analindianer der Fist-Prärie", sollen ihre Opfer mit 0,5- und 1,5-Liter-Colaflaschen sowie Besenstielen vergewaltigt, sie durch den Schlafsaal gejagt, festgehalten, beim Missbrauch zugeschaut, applaudiert haben. Dann versuchten sie, Mädchen mit ihrem Handeln zu imponieren, redeten von "Fisting", offenbar ohne genau zu wissen, was der Begriff eigentlich meint.

Der Fall sorgte für Aufsehen, inzwischen haben sie den Missbrauch eingeräumt: Acht Jungen, zur Tatzeit 13 bis 15 Jahre alt, haben während einer 13-tägigen Ferienfreizeit auf Ameland Ende Juni offenbar acht weitere malträtiert. Die Opfer waren 13 und 14 Jahre alt, zwei der Kinder, die missbraucht wurden, wurden selbst zu Tätern und quälten andere. Ein einzelner Junge soll allein fünf- bis sechsmal Opfer von Vergewaltigungsversuchen geworden sein.

Angefangen hat alles als Bestrafungsritual gegen einen jüngeren Buben, der sich gegenüber den Älteren "zu viel erlaubte", sich "zu viele Freiheiten" herausnahm, wie Oberstaatsanwalt Alexander Retemeyer SPIEGEL ONLINE sagte. Daraus habe sich dann "ein Ritual" entwickelt.

39 Jungs in einem Saal

39 Jungs schliefen im Haus "Silbermöwe" gemeinsam in einem Saal, die Betreuer wohnten im Seitenflügel desselben Gebäudes. Die Polizei hat inzwischen alle Jungen aus dem Raum vernommen "Die mutmaßlichen Täter sind geständig oder teilgeständig", wie Polizeisprecher Georg Linke sagte. Doch das bedeutet nicht, dass die Ermittler ihre Arbeit abgeschlossen haben.

Sie müssen klären, was sich wann genau ereignet hat, wer an welcher Tat beteiligt war. Eine Aufarbeitung ist in weite Ferne gerückt, denn es gilt juristisch hochkomplexe Fragen zu klären:

  • Reicht das Hinterherlaufen schon aus, um einen Missbrauchsversuch anzuklagen?
  • Welchen Tatbeitrag leisteten die Jungen, die andere festhielten?
  • Welchen diejenigen, die am Rande standen und klatschten?

Die Frage nach der Verantwortlichkeit für das Geschehen stellt sich aber auch jenseits der juristischen Konsequenzen. Denn egal ob die mutmaßlichen Täter unter Jugendstrafrecht angeklagt werden oder nicht, bleibt die Frage, wie es so weit kommen konnte - und welche Instanzen versagt haben.

Die Geschichte der Freizeit des Stadtsportbundes (SSB) Osnabrück ist eine Geschichte des kollektiven Wegschauens. "Die Fehler wurden im Vorhinein gemacht", sagt einer, der die Abläufe gut kennt, aber nicht namentlich genannt werden will. Das verdeutlicht eine Rekonstruktion der mutmaßlichen Missbrauchstaten auf Ameland:

Die Auswahl der Betreuer - eine Frage des Geldes

Stefan Müller*, der langjährige Organisator des Camps, stand im Vorfeld der Tour vor einem Problem. Die Anmeldungen trudelten nur langsam beim SSB ein. In den vergangenen Jahren waren mehr als 200 Kinder im Rahmen der größten Osnabrücker Freizeit nach Ameland gereist. 2010 kam man auf nur 170 Kinder. Doch die Betten in den Häusern mussten belegt, die Plätze im Bus besetzt werden. Fehlen die Kinder, dann fehlt das Geld.

Rechnet man die Teilnehmergebühr und die städtischen Zuschüsse zusammen, fehlten bei der Freizeit rund 10.000 Euro in der Kasse. So scheint es nicht verwunderlich, dass Müller sich darauf einließ, als eine Mutter ihn bat, ihren Sohn noch mitzunehmen - obwohl er mit 15 Jahren eigentlich zu alt für die Freizeit war.

"Sie hat angerufen und mich gebeten, eine Ausnahme zu machen, weil ihr Sohn auch in den letzten Jahren so gerne mitgefahren sei", sagte Neuhaus SPIEGEL ONLINE. Zwei weitere 15-Jährige durften daraufhin ebenfalls mitreisen. Zwei der drei Jungen, die eigentlich gar nicht hätten dabei sein dürfen, gehörten nun zum Kreis der mutmaßlichen Täter.

Aber nicht nur auf Seiten der Teilnehmer herrschte in diesem Jahr Flaute: Müller fiel es auch schwer, ausreichend Betreuer für die Reise zu gewinnen. In den vergangenen Jahren hatte es nach Informationen von SPIEGEL ONLINE Auseinandersetzungen mit erfahrenen Begleitern gegeben, weil diese Kritik an der Organisation und an den Zuständen vor Ort äußerten. Müller soll ihnen daraufhin mitgeteilt haben, dass er sie nicht mehr brauche. Er bestreitet das und sagt, die Betreuer seien auf eigenen Wunsch gegangen.

Fest steht: Die Lücken zu füllen war schwierig. Müller versuchte es über die Fachhochschule Osnabrück, suchte bei Fachschulen nach angehenden Erzieherinnen und Erziehern, die die Fahrt als Praktikum angerechnet bekamen. Zehn Studenten fuhren für eine kleine Aufwandsentschädigung mit. Es gab viel Bewegung im Betreuerteam, einige schieden aus, neue kamen hinzu. Müller bestreitet, dass das Team erst kurzfristig zusammengestellt wurde. "Es war ausreichend Zeit", sagt er. Wann genau die Zusammensetzung feststand, das wisse er nicht.

Sehr junge Betreuer

Viele Betreuer waren sehr jung, einige zwar theoretisch qualifiziert, aber praktisch unerfahren. Es galt, aus weitgehend Unbekannten ein Team zu formen, darunter habe die Qualität gelitten, sagt ein Insider. Müller versteht dies als Angriff auf seine Arbeit: Er spricht von einem Stammpersonal von rund 35 Betreuern und Küchenhelfern. Doch insgesamt fuhren 55 Verantwortliche mit.

An dem Vorbereitungstreffen Anfang Mai auf Ameland, das der SSB für alle Fahrten auf die niederländische Insel anbietet, nahm nach Informationen von SPIEGEL ONLINE keiner der Betreuer teil, die später im Haus "Silbermöwe" arbeiteten. Zudem sei einigen der recht jungen Begleiter nicht klar gewesen, in welcher Funktion sie dabei sein würden - als Betreuer oder nur als Helfer.

"Eine solche Freizeit ist immer auch Improvisation", sagt Müller. "Suchen Sie in der heutigen Zeit mal so viele Erwachsene, die bereit sind, freiwillig auf anderer Leute Kinder aufzupassen und ihren Urlaub opfern." Statt der Schulung führte Müller vier Wochen vor Abfahrt ein eigenes Vorbereitungsseminar durch, den Rest übernahmen die Hausleiter.

Gestört hat sich niemand

Er fand nur 13 Betreuer, die im Besitz der Jugendleiterkarte "Juleica" waren. Eigentlich ist sie Voraussetzung, um in dieser Funktion mitreisen zu dürfen, der SSB selbst bietet Seminare an, in denen sie erworben oder verlängert werden kann. Und auch an dieser Stelle spielt das Geld einen Rolle: Für jeden Betreuer mit "Juleica" zahlt die Stadt 4,10 Euro am Tag, also insgesamt 53,30 Euro. Auch hier fehlte das Geld.

Aber gestört hat sich niemand an der Auswahl der Betreuer.

Weder der SSB, der von den Problemen bei der Rekrutierung wusste - aber nicht einschritt. Noch die Stadt, die eigentlich die "Juleica" fördert - aber nicht auf ihr bestehen konnte, da der Veranstalter ein freier Träger ist. Noch die Eltern, die hätten erfragen können, wie qualifiziert die Betreuer sind - aber ihre Kinder mitschickten. Noch der Hausleiter der "Silbermöwe", ein Mann jenseits der 40, der darauf hätte bestehen können, sein Team nur mit qualifiziertem Personal zu besetzen - aber mitfuhr.

Kein Hinsehen, nirgends.

Locker verbunden

Schon lange war die von Müller geleitete Freizeit nur noch locker mit dem SSB verbunden. Das betonte Wolfgang Wellmann, Chef des SSB, nach Bekanntwerden der Vorfälle. Dabei ist der SSB offiziell Veranstalter der Fahrt. Die Zentrale registrierte den Eingang der Anmeldungen und kontrollierte den Eingang der Teilnehmergebühr. Aber inhaltliche Kontrolle? Fehlanzeige.

Offenbar ließ sich Müller nicht gern in die Karten schauen oder gar auf Ameland besuchen. Er selbst wähnt Neid hinter dieser Kritik und weist sie zurück: Die Verantwortlichen seien immer willkommen gewesen. Die Freizeit ist sein Lebenswerk, er ist stolz darauf und beansprucht eine gewisse Kontrolle. Beim SSB insistierte niemand, man fragte nicht nach, hakte nicht nach. Es waren nicht zuletzt die Verantwortlichen dort, die jahrelang davon profitierten, dass Müller alles selbst in die Hand nahm - bis es nun schiefging. Wellmann wollte sich zu dem Verhältnis gegenüber SPIEGEL ONLINE nicht äußern.

Das kollektive Wegschauen, die Naivität, die alle Beteiligten darauf vertrauen ließ, es werde auch in diesem Jahr alles gutgehen, ermöglichte in fataler Weise den Missbrauch auf der Insel.

Vergessen, verleugnen, verdrängen

Zwar waren es die Jugendlichen, die die anderen quälten. Und natürlich muss man sich fragen, wie es so weit kommen konnte, dass sie "eine tiefliegende Verletzung des Ehrgefühls anderer Jungen herbeiführten", wie der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann sagte.

Für Bergmann haben die Taten etwas mit Sexualität - und nicht nur mit Machtgewinn zu tun: "Die haben den anderen ja nicht etwa die Nase verbogen, sondern ihnen Gegenstände in den Anus eingeführt." Er appelliert für eine bessere entwicklungspsychologische Ausbildung von Lehrern und Erziehern, die früher auf diese Jugendlichen hätten aufmerksam werden müssen.

Dass die mutmaßlichen Täter von den Beteiligten als unauffällig beschrieben werden und aus einem intakten Elternhaus stammen sollen, lässt Bergmann nicht gelten - für ihn sage dies nichts über den Charakter der Jugendlichen aus, sondern allenfalls etwas über die Ignoranz der Erwachsenen.

Betreuer wollen nichts gewusst haben

Die Betreuer wollen nichts von den Vorfällen gewusst haben. Müller sagte, er habe er nach der Fahrt vom "Fisting" erfahren und gar nicht gewusst, was der Begriff bedeutet. Der Hausleiter der "Silbermöwe" wusste indes offenbar schon während der Freizeit, dass die Jungen über das "Fisten" redeten. Wellmann sagte, der Mann habe das Thema bei den Kindern angesprochen, bei einer Versammlung im Speisesaal. Lasst das sein, tut das nicht, das ist gefährlich, habe der Leiter gesagt, so Wellmann. Kinder, denen so etwas widerfahren würde, sollten sich bei ihm melden. Aber drei Betreuer des Hauses, unter ihnen der Leiter, hätten versichert, dass sie "in keinem einzigen konkreten Fall" angesprochen worden seien.

Der Druck ist immens: Von den Betreuern aus Ameland haben zwei wegen der Vorkommnisse ihren Job verloren, eine Betreuerin ist in der Psychiatrie, weil sie den Vorwürfen nicht gewachsen ist.

In den Vernehmungen und gegenüber anderen Vertrauten beteuerten einige der Jungen, sich schon vor Ort an die Betreuer gewandt zu haben.

"Missbrauch bleibt nie unbemerkt"

"Sexueller Missbrauch bleibt über einen längeren Zeitraum gesehen nie unbemerkt, egal in welchem sozialen Rahmen er stattfindet", sagt Christoph Walker, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Aus Angst schauen die Beteiligten weg, oft ist ihre Betroffenheit so groß, dass eine Abwehr einsetzt, sich näher mit den Vorfällen zu beschäftigen.

Vergessen, verleugnen, verdrängen, abspalten, das sind die Mechanismen, die im Zeitraffer vor sich gehen. Am Ende bleibt die subjektive Wahrnehmung, tatsächlich nichts mitbekommen zu haben. "Am liebsten würden wir mit der ganzen Situation nichts zu tun haben", sagt Walker.

Solche Abwehrmechanismen tauchen vor allem dann auf, wenn es darum geht, etwas zu schützen: die eigene Familie, die eigene Integrität, das Idyll der schönen Freizeit. "Denn wenn es aufgedeckt wird, dann bleibt nichts Schönes mehr zurück."

*Name von der Redaktion geändert